Visby 2014

Visby

Visby, oder auch Wisby – beide Schreibweisen gibt es – Gotlands Hauptstadt, Touristenmagnet, Hansestadt, Seeräubernest, Metropole des Mittelalters.

Alles noch sinnlich erfahrbar, alles noch zu sehen.

Über den Dächern von Visby
Über den Dächern von Visby

„Visby ist nicht Gotland“ steht im schlauen Buch zu lesen. Was deutlich zu sehen ist, Visby ist eine Stadt und Gotland eine große Insel. Gemeint ist auch, dass die Stadt wohl oft deutlich andere Interessen verfolgt hat als die der restlichen Inselbevölkerung. Natürlich heißt es auch, das Gotland mehr zu bieten hat als nur Visby, was sicher auch stimmt. Aber Visby war der Zielpunkt dieser Reise, und der Rest von Gotland ist leider auch ein bisschen zu kurz gekommen. Das kommt später.

Visby liegt da, wo man eine Handelsstadt hätte gründen müssen, wenn es sie nicht schon gegeben hätte: In der Mitte der Ostsee. Schon im frühen Mittelalter – nach unserer mitteleuropäischen Zählung – gegründet, machte es die zentrale Lage zu einem der wichtigsten Umschlaghäfen: Getreide, Tuche, Wein, Gewürze aus Mitteleuropa, Pelze aus Russland, Eisen aus Schweden.

Hier, in der geografischen Mitte, war der Handelplatz, hier wurde man reich. Wie es denn damals auch schon so war: Wo Geld zu verdienen ist, finden sich gar bald auch ausländische Investoren, was dann in diesem Fall erst dänische und russische Kaufleute und später die der Hanse waren. Und da jede Gruppe eigene Interessen und Privilegien hatte, ging das wohl nicht sehr spannungsarm zu. Unser aller Online-Lieblingslexikon weiß darüber einiges zu berichten. So wurde die erste Stadtmauer denn auch nicht errichtet, um sich militärisch zu schützen, sondern schlicht, um unerwünschten Teilnehmern den Zugang zum Markt zu verwehren. Ganz physisch damals, nach dem Motto: „Ey du, du kommst hier nicht rein!“

Reich wurde man allerdings wohl nur in der Stadt, denn die gotländische Bevölkerung war am steigenden Bruttosozialprodukt nicht nur nicht beteiligt, im Gegenteil, durch die Lebensmittelimporte wurde den gotländischen Bauern eher das Wasser abgegraben, sie verloren ihre Konkurrenzfähigkeit. Was immer wieder zu Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen Gotländern und den Bewohnern von Visby führte.

Die Herrschaft über Gotland, und damit über Visby, wechselte mehrfach zwischen Dänen und Schweden. Visby umgab sich mit einer Stadtmauer, die sowohl vor den jeweiligen Eroberern, oder Eroberungswilligen, als auch vor der eigenen gotländische Landbevölkerung schützte. Und wie sehr Visby nicht Gotland war, sieht man daran, wie die Eroberung Gotlands durch den Dänischen König Waldemar Atterdag verlief, 1361.

Eine gotländische Bauernmilitz stellte sich den Dänen entgegen, wurde bis vor die Tore Visbys zurückgedrängt, und dann wurden die Menschen nicht in die Stadt gelassen. Den Kampf zwischen den unorganisierten Gotländern und den dänischen Berufssoldaten hat kaum ein Gotländer überlebt.

Warum haben die Visbyer die Gotländer nicht in die Stadt gelassen? Offenbar weiß es heute niemand mehr mit Bestimmtheit, denn man kann mindestens drei Begründungen lesen: man hat sich nicht mehr getraut, die Tore zu öffnen, weil die dänischen Truppen zu nah waren. Man wollte keine bewaffneten Gotländer in der Stadt haben. Oder man wollte eine günstige Verhandlungsposition gegenüber dem dänischen König nicht gefährden. Vielleicht stimmt alles. Warum haben sich die Gotländer überhaupt auf einen solchen chancenlosen Kampf eingelassen?

Die Mauern jedenfalls stehen heute noch.

Und die dänische Herrschaft kann nicht wirklich fundiert gewesen sein, denn bereits rund 30 Jahre später hat sich eine bekannte Abenteurergruppe aus unseren Landen für immerhin 5 Jahre hinter den Mauern von Visby einnisten können und, so das Lieblingslexikon, die Seeherrschaft über die Ostsee ausgeübt: die Vitalienbrüder. Oder besser bekannt als die Leute um Störtebecker. Und es bedurfte immerhin des Deutschen Ordens, also gut ausgebildeter Soldaten, um sie von dort wieder zu vertreiben. Was für die Brauchbarkeit der Mauern spricht. Und wohl auch dafür, das es Unterstützer gab – oder Sympathisanten, wie man heute sagen würde.

Alle Details der turbulenten Geschichte Visbys sollen und können hier nicht berichtet werden, steht sowieso alles im besagten Lieblingslexikon, aber noch ein Ereignis, dass das Stadtbild bis heute prägt: 1525, also zu einem Zeitpunkt, als die Hanse eigentlich ihre Existenzgrundlage schon verloren hatte, oder zumindest dabei war, sie zu verlieren, sind die Visbyer und die Lübecker dermaßen aneinander geraten, das lübische Truppen Visby erobert haben. Und da es, wie so oft bei Auseinandersetzungen der Hanse, darum ging, welche Gruppe welche Sonderrechte hat, hat man die Kirchen der Gegner niedergebrannt. Und Gegner der Lübecker, das waren offensichtlich zu dem Zeitpunkt alle. Denn alle Kirchen in Visby wurden damals niedergebrannt, alle außer der eigenen, dem heutigen Dom.

Irgendwie hatten die Beteiligten den Schuss wohl nicht gehört:

1492 Kolumbus in Amerika

1500 Cabral in Brasilien

1521 Eroberung Mexikos

1525 versinken Lübeck und Visby, heftig Krieg führend, in der historischen Bedeutungslosigkeit. Hier hatte man noch nicht begriffen, dass das Mittelalter gerade zu Ende ging.

Was uns Nachgeborenen aber in beiden Fällen große Teile des mittelalterlichen Stadtbildes erhalten hat. Denn so, wie dieser Konflikt ausgegangen ist, stellt sich Visby heute noch dar: mit vollständiger Mauer und mit einer Unzahl von Kirchenruinen. Immerhin, im nachhaltigen Zerstören war unseren hanseatischen Altvorderen ein voller Erfolg beschieden. Nirgendwo sonst in dieser Welt sind mir so viele Kirchenruinen auf so kleinem Raum bekannt. Auf der großen Insel am Westrand der Nordsee stehen noch wesentlich mehr, aber die sind gleichmäßiger verteilt.

Jetzt also vom Hafen durch die Stadt. Es ist Sommer, es ist Urlaubs- und Feierstimmung, und es ist sehr sehr voll. Du meinst zu schieben und du wirst geschoben. Nachdem ich mich ein wenig zurecht gefunden habe, merke ich, dass sich der Strom von mehr oder weniger freudigen Menschen ganz überwiegend zwischen dem Hafengebiet und dem nächstliegenden Stadttor hin- und herschiebt. Man kann sich also etwas Luft verschaffen, indem man nach rechts oder links aus der großen Kolonne ausbricht.

Die Stadt ist am Hang erbaut, oder, was die Sache besser beschreibt, sie zieht sich am Westufer der Insel an der Ostsee entlang, und eine Geländestufe, ganz ähnlich der, die wir von Öland kennen, geht in Längsrichtung durch den Kern der Altstadt. Dadurch gibt es einige Stellen, von denen aus man einen guten Überblick hat.

 

Noch mehr Dächer von Visby
Noch mehr Dächer von Visby

Die Altstadt ist bis heute fast vollständig von der Stadtmauer umschlossen, einzig nennenswerte Ausnahme ist der Hafenbereich. Dabei kann man zwischen der niedrigen, einfachen Seemauer und der turmbewehrten Landmauer unterscheiden.

Visby: Seemauer
Visby: Seemauer

Wobei es bei den Türmen zwei unterschiedliche Bauweisen gibt, die normalen Türme, die, wie es sich für einen ordentlichen Turm gehört, fest auf gotländischem Boden stehen, und die Sattel- oder Reittürme. Letztere hängen an der Mauer, was vermutlich schneller und materialsparender zu errichten war, aber offensichtlich auch Probleme mit sich bringt. Auch wenn man kein Baustatiker ist, so wirklich Vertrauen erweckend sieht diese Bauweise nicht aus. Und etliche dieser sonderbaren Bauwerke sind im Laufe der Jahrhunderte auch schon abgestürzt, oder haben in jüngerer Zeit eine Stützkonstruktion erhalten, die das Abstürzen verhindern soll.

Landmauer mit abgestützem Reitturm, neue Technik
Landmauer mit abgestützem Reitturm, neue Technik
Abgestützer Reitturm, alte Technik
Abgestützer Reitturm, alte Technik
Zu spät, kein Turm mehr da
Zu spät, kein Turm mehr da

Teils kann man heute noch erkennen, dass die Mauer in Eile errichtet wurde. Die benötigten Steine wurden damals direkt vor der Mauer gebrochen, was ja den Vorteil hatte, das durch den Steinbruch vor der Mauer ein zusätzliches Hindernis für die Angreifer entstand. Und wo ein Haus im Wege stand, das hinreichend solide war, wurde dieses in die Mauer mit einbezogen. Auf diese Art ist auch das älteste Gebäude von Visby erhalten geblieben, älter als die Stadtmauer, und bis heute als Wohnhaus genutzt.

Visby, in die Mauer einbezogenes Haus
Visby, in die Mauer einbezogenes Haus

So macht denn heute ein militärisches Bauwerk mit blutrünstiger Geschichte einen großen Teil des Reizes dieser faszinierenden Stadt aus.

Auf der Mauer von Visby
Auf der Mauer von Visby

Natürlich gibt es nicht nur Kirchenruinen und Stadtmauern in der Altstadt von Visby, sondern auch Straße, Plätze und Häuser. Das Stadtbild wäre auch ohne Kirchen und Mauer sehr sehenswert. Und es gibt auch einen Gouverneurspalast. Und die Ruine eines solchen. Denn als die Schweden zum letzten Mal hier die Herrschaft übernommen haben, haben sie beschlossen, das ein schwedischer Gouverneur nicht in so einem kalten, steinernen, alten hanseatischen Gebäude residieren oder auch nur wohnen kann, und haben ihm erst mal ein anständiges schwedisches Holzhaus gebaut. Wo der alte Gouverneurssitz war, ist heute ein Parkplatz. Nur ein Teil der Außenmauer und ein Tor sind noch da. Kann man alles auf den Hinweisschildern lesen.

Visby, Gouverneurspalast
Visby, Gouverneurspalast

Trotzdem gibt es immer noch, ganz unschwedisch, überwiegend steinerne Häuser in Visby.

Kalkstein lässt sich ja auch preiswerter verarbeiten als der sonst weit verbreitete Granit. Was wohl zumindest zum Teil die Präferenz der Schweden für Holzarchitektur erklärt. Holz billig, Stein teuer.

Außer in den Gebieten, wo man nicht direkt auf dem Felsuntergrund aus mehr oder weniger soliden Tiefengestein läuft. Oder auf der manchmal erschrecklich dünnen Bodenschicht, die darüber liegt. Wären z.B. Schonen, eiszeitliches Sediment, und Öland und Gotland, Kalkstein. Und hier gibt’s auch weniger Holz- und mehr Steinhäuser.

Den Kalkstein kann man ja auch gut zu Zement brennen, und das wird auf beiden großen Inseln auch getan. Zum Glück ist in beiden Fällen genug Insel da, es besteht nicht die Gefahr, das zu unseren oder unserer Kinder Lebzeiten die Inseln komplett durch die Öfen wandern.